Gebärdensprachen – mehr als nur lautlose Kommunikation
verfasst von: Dr. phil. Florian Reinartz (Forschung & Entwicklung apenio®)
Gebärdensprachen wirken auf den ersten Blick wie Teile von Gesamtsprachen – und erscheinen zudem universell und unabhängig von gesprochenen bzw. geschriebenen Sprachen. Aber sind sie dies wirklich und könnten sie als grammatisch-lexikalisches Modell für andere (Fach-)Sprache, etwa eine Pflegefachsprache verwendet werden? Lassen sich Gebärden also in unmissverständliche Sprachen rückübersetzen und für eine feste Domäne, etwa für die Pflege, nutzen?
Faszination und Missverständnisse
Wer einmal die „Tagesschau“ mit eingeblendeter Gebärdenübersetzung verfolgt hat, wird bestätigen können: Von Gebärdensprachen geht eine gewisse Faszination gepaart mit einigen Missverständnissen über diese Sprachen aus. Gebärdensprachen wirken einerseits universell, andererseits erscheint es kaum vorstellbar, dass sie die gleiche Ausdrucksmächtigkeit wie gesprochene Sprachen besitzen. Dabei lassen sich einige ziemlich deutliche, wissenschaftlich fundierte Aussagen zu Gebärdensprachen treffen.
Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen
Wie die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) und die Linguistic Society of America (LSA) in Stellungnahmen bestätigen, sind Gebärdensprachen vollwertige und eigenständige Sprachen – und nicht etwa Teile von Gesamtsprachen. Wie andere Sprachen besitzen sie Artikulation, Flexion, Wortbildung, Syntax und Semantik. Entgegen landläufiger Vermutungen sind Gebärdensprachen nicht einfach von gesprochenen Sprachen abgeleitet, sie sind nicht gebärdete Versionen existierender Lautsprachen. Vielmehr handelt es sich um voneinander unabhängige Sprachsysteme mit vergleichbaren grammatischen Strukturen und denselben neurokognitiven Grundlagen.
Die Parameter der Verständigung
Gebärdensprachen funktionieren über vier manuelle Parameter und vier nichtmanuelle Parameter bzw. deren Kombinationen. Zu ersteren gehören Handform und -stellung, Ausführungsort der Bewegung sowie die Bewegung selbst; zu den nichtmanuellen Komponenten zählen Mimik, Blick, Oberkörper- und Kopfstellung sowie das mit den Lippen geformte Lautbild. Bedenkt man, dass es alleine beim Parameter der Handform in der Deutschen Gebärdensprache 30 verschiedene Handform-Phoneme gibt, wird die Ausdrucksmächtigkeit von Gebärden recht schnell deutlich.
Gebärdensprache nicht international
Eine weit verbreitete Annahme zu Gebärdensprachen ist auch, dass es eine international einheitliche Gebärdensprache gebe. Dies widerspricht der ebenso falschen Annahme, dass eine Gebärdensprache von der sie umgebenden Lautsprache abgeleitet sei. Vielmehr ist Gebärdensprache weder eine einheitliche Weltsprache noch – wie bereits erwähnt – eine reine Ableitung einer gesprochenen Sprache. Es existieren sowohl länderspezifische als auch regionsübergreifende Gebärdensprachen und sogar – wie bei jeder natürlichen Sprache – unterschiedliche Dialekte einer einzigen Gebärdensprache.
Gebärden kann man auch singen
Ihr Status als vollwertige Sprachen mit ihren verschiedenen Varietäten und Ausprägungen betont unter anderem den besonderen kulturellen Wert von Gebärdensprachen, der über die bloße Kommunikationsfunktion hinausgeht. So gibt es auch literarisch-poetische Texte in Gebärdensprache und sogar Gebärdensprachchöre: Im Mai 2016 brachten im Rahmen der „Tübinger Kulturnacht“ 600 Menschen auf dem Tübinger Marktplatz unter Anleitung des Gebärdenchors Sign Singers das Wiegenlied „La Le Lu“ zum Nicht-Gehör. Und natürlich liefern Gebärdensprachen ein breites Forschungs- und Betätigungsfeld für Linguisten, Anthropologen und Dolmetscher.
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Florian Reinartz, Linguistik-Experte im Team apenio® Forschung & Entwicklung und Autor dieses Artikels, steht Ihnen für Fragen oder Anregungen gern zur Verfügung unter Telefon +49 (0) 421 2 23 01-0 oder per E-Mail.
Weiterführende Literatur:
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft zu Gebärdensprachen: https://dgfs.de/de/aktuelles/2012/stellungnahme-der-dgfs-zu-gebaerdensprachen.html
Wie funktionieren Gebärdensprachen: https://dgfs.de/de/thema/wie-funktionieren-gebaerdensprachen.html
Svenja Scherrers: Verbalklassen der deutschen Gebärdensprache: http://www.germanistik.uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Bergischer_Grimm/BA_Arbeit_Scherrers_komplett.pdf
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