Nach dem BSG-Urteil: atacama | 45b digital geht gestärkt hervor und bietet sich Kassen als Alternative zum Outsourcing an
Das BSG hat vor kurzem die Langfassung zum Urteil vom 30.08.2023 veröffentlicht. Geschäftsführer Michael Jansen, der auch viele Jahre als Ausbilder und Personalentwickler bei unterschiedlichen Krankenkassen und GKV-Bildungseinrichtungen tätig war, erläutert die Entscheidung der Kasseler Richter.
1. Ausgangslage
Mit seinem Urteil vom 30.08.2023 bestätigt das Bundessozialgericht (BSG) die Auffassung des Bundesamts für Soziale Sicherung (BAS), wonach die Übertragung der den Pflegekassen (Kassen) obliegenden Aufgaben nach dem SGB XI im Rahmen des sog. Outsourcings auf private Dienstleister in Ermangelung einer hierzu ermächtigenden Rechtsgrundlage nicht zulässig ist. Insbesondere die für die Gesetzliche Krankenversicherung geltende Regelung des § 197b SGB V (Aufgabenerledigung durch Dritte) ist danach im Rahmen der Sozialen Pflegeversicherung nicht anwendbar.
Die von den Kassen zu erbringenden Arbeitsschritte im Zusammenhang mit Beratungseinsätzen (§ 37 Abs. 3 SGB XI), Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI) und zusätzlichen Betreuungsleistungen (Entlastungsbetrag gem. § 45b SGB XI) berühren nach Auffassung der Vorinstanz (Landessozialgericht, LSG) das der Steuerung der Leistungserbringung dienende Fall- bzw. Leistungsmanagement und können daher als wesentliche Aufgaben zur Versorgung der Versicherten i.S. von § 197b S 2 SGB V nicht auf Dritte übertragen werden.
Das BAS (hier: Beklagte) hatte die Kasse (Klägerin) im Rahmen der Aufsichtsprüfung darauf hingewiesen, dass sachbearbeitende Aufgaben der Leistungsgewährung mit Kundenkontakt als Kernaufgaben der gesetzlichen Krankenkassen einem Outsourcing auf private Dienstleister grundsätzlich nicht zugänglich seien. Eine Zusammenarbeit mit privaten Dienstleistern sei allenfalls dann denkbar, wenn diese ausschließlich fiskalische Aufgaben außerhalb der Sachbearbeitung ohne Kontakt zu Versicherten wie Postdienstleistungen (Scannen und Indizieren der Eingangspost), Datenannahme und -aufarbeitung oder nachträgliche Rechnungsbearbeitung im Verhältnis der Kasse zu Leistungserbringern übernehmen würden.
Dem BSG-Urteil lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem die Klägerin (Kasse) einem privaten Dienstleister einzelne Prüfschritte im Zusammenhang mit § 45b, § 39 und § 37 Abs. 3 SGB XI übertragen hat. In der Gesamtschau hat die Klägerin dabei laut BSG-Urteil dem Dienstleister in allen betroffenen Bereichen die Versicherten unmittelbar berührende qualifizierte Sachbearbeitungen mit inhaltlicher Prüfung der versicherungs- und leistungsrechtlichen Voraussetzungen übertragen.
Inzwischen liegt der Volltext der BSG-Entscheidung (B 3 A 1/23 R) vor. Wir haben den Volltext als Anlage 1 beigefügt. Das Urteil wurde vom Autor dieser Stellungnahme in – aus seiner Sicht wichtigen – Teilbereichen farblich markiert.
Im Kern bestätigt das BSG die Auffassung der Vorinstanzen. Soziale Versicherungsträger (hier: Pflegekassen, im Weiteren „Kassen“) dürfen externe Dienstleister nicht ohne hinreichende gesetzliche Grundlage mit der Wahrnehmung ihnen zugewiesener Aufgaben beauftragen. Von dieser Rechtsprechung nimmt das BSG aber sogenannte „untergeordnete Hilfsdienste“ aus (vgl. z.B. Randziffer 5b des Urteils).
2. Beurteilung dieser Rechtsprechung im Hinblick auf die Digitalisierungsdienstleistungen von atacama
2.1 Allgemeines
Die atacama KV Software GmbH & Co. KG (atacama) ist ein Softwarehersteller mit Schwerpunkt „Gesetzliche Krankenversicherung / Pflegeversicherung“. Als Partner der BITMARCK stellen wir mit der atacama | GKV Suite eine Add-On-Software zum Kernsystem BITMARCK_ 21c|ng zur Verfügung.
atacama | PV ist ein Modul der atacama | GKV Suite, welches die Sachbearbeiter*innen der Pflegekassen bereits seit Jahren bei der Bearbeitung von Fragestellungen rund um die gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) unterstützt. Das Modul ist dem BAS ebenfalls seit Jahren bekannt.
atacama | PV bietet die Möglichkeit, extrahierte Daten aus Pflegerechnungen bzw. aus Beratungseinsätzen nach atacama | PV zu importieren, um sie dort unter Anwendung der gesetzlichen Grundlagen und mittels kassenindividuellen Regelwerks prüfen und verarbeiten zu lassen. Die Übertragung nach BITMARCK_21c|ng erfolgt dann i.d.R. durch direkte Schnittstellen.
Mithilfe von optionalen Funktionserweiterungen in atacama | PV können derzeit Rechnungen nach § 45b SGB XI (Entlastungsleistungen), § 39 SGB XI (Verhinderungspflege) und § 42 SGB XI Kurzzeitpflege) einer solchen automatisierten Prüfung unterzogen werden. Gleiches gilt für die Ergebnisformulare von Beratungseinsätzen nach § 37 Abs.3 SGB XI.
Perspektivisch können voraussichtlich im Laufe des Jahres 2024 auch Rechnungen der vollstationären Pflege (§ 43/ 43c SGB XI) verarbeitet werden.
2.2 Prozessablauf in atacama | PV
Viele Kassen nutzen bereits seit mehreren Jahren die unter Ziff. 2.1 beschriebenen Funktionserweiterungen innerhalb von atacama | PV. Bei der Kasse eingehende Rechnungen bzw. die von der Kasse bereitgestellten Dokumentenscans werden nach der Übertragung zu atacama in einem ersten Schritt möglichst vollständig digitalisiert. Der anschließend vorliegende digitale Datensatz wird sodann in das Programm atacama | PV importiert.
In atacama | PV kommen dann umfassende Prüfregeln zur Anwendung. Dies geschieht vollautomatisch unter Einbeziehung von BITMARCK_21c|ng-Daten sowie der in atacama | PV vorliegenden maschinellen Informationen (z.B. in Bezug auf das Budget § 45b SGB XI). Die Prüfregeln werden softwareseitig bereitgestellt, über den Umfang des Einsatzes (Rang der Fehlerstufen) entscheidet aber stets die jeweilige Kasse in eigener Zuständigkeit.
Sofern die kassenseitig aktivierten Prüfregeln innerhalb der Software ein positives Ergebnis (= keine Beanstandung) liefern, kann die Zahlung mittels Zahlschnittstelle nach BITMARCK_21c|ng übertragen werden. Hierzu ist eine aktive Aktion durch Mitarbeiter*innen der Kasse im Sinne einer Zahlungsfreigabe erforderlich. Stichproben dieser Sachverhalte können zur Kontrolle – ebenfalls durch Mitarbeiter*innen der Kasse – in eine Prüfgruppe (Sachbearbeitungsgruppe bei der Kasse) gesteuert werden. Die Quote dieser Stichproben legt die Kasse in eigener Verantwortung fest.
Sachverhalte, in denen die kassenseitig aktivierten Prüfregeln ein negatives Ergebnis (= Fehlerhinweis) liefern, werden automatisch in die von der jeweiligen Kasse vorkonfigurierten Prüfgruppen gesteuert. Die weitere Bearbeitung erfolgt auch hier von Kundenberater*innen der Kasse (Zahlung / Teilzahlung / Ablehnung).
2.3 Tätigkeiten durch Mitarbeiter*innen der atacama
Die von der Kasse bereitgestellten Dokumentenscans werden in erster Linie vollständig maschinell digitalisiert. Mitarbeiter*innen von atacama werden ausschließlich im Rahmen einer Nachbearbeitung tätig, wobei einzelne maschinell nicht erkannte Datenfelder nacherfasst werden.
Bei diesem Prozessschritt handelt es sich um Aufgaben außerhalb der Sachbearbeitung und ohne jeden Kontakt zu Versicherten. Die Tätigkeit der atacama-Mitarbeiter*innen beschränkt sich ausschließlich darauf, einzelne Elemente (z.B. Zahlen, Texte, IBAN etc.) auf den gescannten Belegen im Rahmen einer Nachbearbeitung zu digitalisieren. Im Sinne der BAS-Argumentation handelt es sich dabei um untergeordnete Hilfsdienste zur Indizierung der Eingangspost sowie zur Datenaufbereitung. Folgende Merkmale sind in diesem Zusammenhang Kernbestandteil unserer Dienstleistung:
- Eine Bezugnahme zum konkreten Leistungsfall i.S. einer Prüfung oder Entscheidung durch Mitarbeiter*innen von atacama ist völlig ausgeschlossen.
- Eine (wie im Sachverhalt des Urteils vorliegende) rechtliche Grundprüfung durch Mitarbeiter*innen von atacama erfolgt in keinem Fall.
- Die Tätigkeit zielt allein darauf ab, Datenelemente auf einem Dokument zu finden und so weit wie möglich zu digitalisieren.
- Diese Tätigkeit setzt keinerlei Fachexpertise im Bereich Pflegeversicherung voraus.
- Auf den Rechnungen fehlende Informationen (z.B. fehlende KV-Nummer), werden von atacama-Mitarbeiter*innen nicht manuell nachgetragen.
- Die von atacama in diesem Zusammenhang eingesetzten Mitarbeiter*innen haben weder Zugriff auf den Datenbestand von BITMARCK_21c|ng noch auf atacama | PV.
- Jeder individuelle Bezug zum Leistungsfall ist ausgeschlossen. Von atacama-Mitarbeiter*innen wird lediglich eine Nachbearbeitungsmaske genutzt, innerhalb derer allein die Datenaufbereitung erfolgt.
- Die Hinterlegung individueller Anmerkungen im Sinne eines Vorschlags oder einer Empfehlung zur weiteren Bearbeitung ist atacama-Mitarbeiter*innen nicht möglich.
2.4 Verantwortlichkeit der Kasse
Im Rahmen des zuvor beschriebenen Prozesses obliegt es allein der Kasse, die von atacama bereitgestellte Software und hierbei insbesondere das umfangreiche Regelwerk den individuellen Erfordernissen und Wünschen anzupassen. Hierdurch steuert die Kasse die Prüftiefe nach dem Import der zuvor digitalisierten Datensätze. Die Kasse legt darüber hinaus die Quote der Prüffälle bei den „nicht beanstandeten“ Sachverhalten fest. Der Grad der Automatisierung wird somit über Einstellungen des Regelwerks von der Kasse definiert. Die Fallbearbeitung innerhalb der Prüfgruppen erfolgt allein durch Mitarbeiter*innen der Kasse in eigener Verantwortung und Zuständigkeit.
2.5 Bisherige Erfahrungen im Hinblick auf die Rechtsauslegung des BAS
Unsere erste Funktionserweiterung mit dem Namen atacama | 45b digital wird seit Sommer 2020 produktiv genutzt. Unsere über 30 bundesunmittelbaren Anwenderkassen berichten bislang von keinerlei Beanstandungen durch das BAS.
Sofern Kassen im Umfeld BITMARCK_21c|ng Dienstleistungen im Sinne der BSG-Rechtsprechung bislang an Dritte ausgelagert haben, stellen unsere Funktionserweiterungen in atacama | PV daher eine gute Alternative zum Outsourcing dar.
3. Fazit
Der dem Urteil des BSG vom 30.08.2023 zugrunde liegende Sachverhalt ist nicht mit den von atacama bereitgestellten Funktionserweiterungen (45b, 39, 37 (3), 42, 43 SGB XI) vergleichbar. Eine Anwendung des Urteils auf die Nutzung unserer Software und die damit verbundene Datenaufbereitung scheidet daher aus.
Von unseren Mitarbeiter*innen werden niemals Handlungs- oder Entscheidungsempfehlungen gegeben. Im Rahmen unserer Dienstleistung werden atacama-Mitarbeiter*innen ausschließlich im Bereich der Dokumentenaufbereitung ohne Bezug zum konkreten Leistungsfall tätig. Hierbei handelt es sich eindeutig um „untergeordnete Hilfsdienste“, wie sie z.B. auch im Bereich der Posteingangserkennung einer Kasse stattfinden. Solche Hilfsdienste sind im Rahmen der BSG-Rechtsprechung nicht ausgeschlossen worden. Vielmehr kann ein Sozialversicherungsträger im Hinblick auf die Übertragung von untergeordneten Hilfsdiensten in Wahrnehmung seiner Organisationshoheit eigenverantwortlich entscheiden (Randziffer 7d des Urteils).
Im Übrigen entscheidet die Kasse über die Verwendung des softwareseitig vorhandenen Regelwerks und die damit verbundene Prüftiefe in alleiniger Zuständigkeit. Dies gilt auch für Zahlungen, Teilzahlungen oder Ablehnungen.
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